IDORU oder Das Internet der Dinge Teil I
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[foto: Rini Tinnef // stubensphinx] |
Die Zukunft ist ungewiß und preßt sich ganz allmählich durch das Nadelöhr der Gegenwart. Ja richtig, die Zukunft ist ungewiß und preßt sich ganz allmählich durch das Nadelöhr der Gegenwart, nicht weil es ihr ein Anliegen wäre, sondern ganz ohne Hoffnung, Ambitionen, großen Erwartungen oder übertriebene Befürchtungen, sondern weil sie wohl dazu gemacht wurde. Vorwärts immer, rückwärts nimmer, ganz uninteressiert am Hinten, ein einziges stetiges nach Vorne - oder vielleicht auch nicht, aber des Menschen Wahrnehmung läßt nichts anderes zu. Nur was ihn selbst betrifft funktioniert die Zeit ganz anders: Ständig wirft man Blicke zurück, auf den eigenen Weg, den Werdegang, das ganze Leben, und grübelt, ob es andere Bahnen liefe, hätte man an diesem oder jenem Punkt sich anders wohl entschieden und wäre doch nach Neuseeland ausgewandert, treu geblieben oder zur Hölle gefahren. Müßig ist das Hätte-Hätte, allein es ist auch menschlich, alles ständig neu zu bewerten, neu zu ordnen, neu zu überdenken, ständig seine Meinung zu ändern, ständig zu grübeln und zu hadern, zu fragen und zu hoffen und am Ende ständig das Gleiche zu tun und schließlich irgendwelche Memoiren drüber zu schreiben, die kein Schwein lesen mag.
Die Zeit werden wir wohl nicht ändern, aber alles Menschengemachte unterliegt der freien Gestaltung. Es ist doch ganz erstaunlich, wieviele Gestaltungsaufträge unerkannt in der Gegend herumliegen, bei all der Zukunftsforschung und Update-Hysterie sollte man doch fast vermuten, das die Aufmerksamkeit ganzheitlich ist, doch mitnichten. Neulich war ich überrascht, es kam zu einer interessanten Diskusion: Der Vorwurf richtete sich an ein paar sehr sehr kleine Dinge, die zwar täglich im Gebrauch doch hoffnungslos veraltet mittlerweile oder von Anfang an völlig frei von Sinn und Verstand das gestalterische Auge beleidigen: Warum ist das Speichersymbol auf so vielen Betriebssystemen immer noch eine Diskette? Ich weiß noch was das ist, aber da wächst gerade eine neue Generation ran, für die eine Zeit ohne Internet und Handy ganz unvorstellbar ist, oder nur dann zum Tragen kommt, sollte der gerade favorisierte Provider überfordert mit der Netzabdeckung sein. Die kennen Disketten nur noch aus Berichten in fachlich affinen Foren. Nur so zur Erinnerung: Ein Magnetspeichermedium mit einer Speichergröße von ca. 1,5 MB (!!) und für diejenigen, die sich belesen müssen (oder auch in vergangenen Zeiten schwelgen möchten) hier in vorauseilendem Gehorsam der Wikilink zur Diskette. Was soll das? Und warum ist das Symbol für die Einstellungen ein Zahnrad?? Es gab noch niemals nie einen Rechner mit Zahnrädern... na is ja auch egal dachte ich jedesmal, is ja nicht so wichtig, aber je länger sich da nichts tut und je länger ich auch darüber nachdenke, stelle ich immer mehr fest, wie wichtig das eigentlich doch ist. Ein Leben ohne Internet und Rechner: Unvorstellbar, ständig Innovationen und Leistungssteigerungen, mönströse Übertragungsraten, jetzt das Internet der Dinge, die Maker-Bewegung, 3D Druck & Rapid Prototyping, die Hochtechnologien im Hacker-Bausatz für zu Hause, alles kein Problem, und die wichtigsten Piktogramme wie aus dem letzten Jahrhundert?? Auweia achherje.
Tatsächlich, wir feiern das Internet der Dinge, weit nach der Globalisierung, wir feiern Lokalisten und Nachhaltigkeit, regionale Rückbesinnung und handwerkliches Traditionskönnen, Kunsthandwerk, Kiezlichkeit und Authentizität, die Nischenbesatzer und -erfinder, die unglaublich breite neue Basis, neben den großen Marktgiganten, die als Massenlieferanten immer weiter in eine eigene Nische verdrängt werden: Unglaublich günstige und unglaublich perfekte Basics zu liefern. Und der große Umbruch vermutlich auch nur ein Zwischenschritt, bevor ich meine und du deine Kaffetassen nicht mehr bei Ikea erstehe, sondern bei IkeaDotCom nur noch die Kaffetassendatei bezahle und herunterlade und dann auf dem heimischen 3D-Drucker rausdrucke, grün, gelb, blau und mit bunten Punkten, wie es Euch gefällt. So weit ist das nicht mehr weg, nach dem Internet der Dinge der Online-Shop ohne Produkte, kauf die Idee und gestalte sie selbst aus. Vor kurzem war das noch SciFi, aber die wird ja von der Gegenwart immer schneller eingeholt.
Wir erinnern uns: William Gibson der irgendwannmal in einem hellen Moment den Cyberpunk erfand, schrieb außer der Neuromancer Triologie noch viele andere spannende Bücher und wie sooft hängt auch bei ihm der Erfolg seiner Geschichten an der Überzeugungskraft seines Entwurfs, die Glaubhaftigkeit seines Zukunftsbildes, der virtuelle Style beim Erzählen, das fiktive bling-bling frei erfundener Hochtechnologien und der Alltag, der sich unter zukünftigen Bedingungen für die Gesellschaft ergeben könnte. Die großen Motive menschlicher Interaktionen mit Erfolgspotenzial zur Unterhaltung sind jetzt nicht ganz so zahlreich, berühmte Geschichten handeln eben von Liebe und Haß, Ruhm und Ehre oder anderem Geltungsdrang, großen und kleinen Tragödien oder katastrophalen wie auch vergnüglichen Mißverständnissen. Um die Liebe neu zu erzählen, die immer dann am spannensten ist, wenn die Liebenden rechtmäßig nicht zusammen kommen können oder dürfen, zeichnet Gibson im gleichnamigen Romanteil seiner zweiten großen SF-Trilogie (Bridge Triologie) das Erwachen einer IDORU nach (William Gibson, Idoru (1996), Wilhelm Heyne Verlag GmbH & Co KG, München 2002;). Die Idoru Rei Toei ist ein virtueller Popstar, ein von tausenden Imageberatern designtes Computerprodukt, zugeschnitten auf den Geschmack der Konsumenten in aller Welt. Dieses idealisierte, imaginäre Wesen ersetzt einen herkömmlichen Entertainer, der nach einem langen Werdegang endlich zu großem Starruhm gelangt und eine riesige Fangemeinde gewonnen hat. Es wird entsprechend der Wunschvorstellungen potenzieller Fans geschaffen, und der Weg des Marketings bedeutend kürzer und lukrativer gestaltet. Doch die KI erwacht, als sie mit einer scheinbar sehr ähnlich gearteten, "realen" Romanfigur in Berührung kommt. Zu dem US-Rockstar Rez, einem eigenartigen Einzelgänger mit irischem und japanischem Erbe, fühlt sie sich stark hingezogen. Da sie auf die unendliche Daten- und Bilderflut des Cyberspace uneingeschränkt zugreifen kann, welche das digitale Abbild der Welt formt, interpretiert sie dieses Gefühl nach dem realen Vorbild als Liebe. Diese Liebe liefert ihr einen Antrieb zu eigenem Handeln, lässt sie über ihre Programmierung hinaus erwachen und wird von Rez auch erwidert.
Die beiden Stars, ein echter und ein virtueller, streben nun der menschlichen Natur folgend eine Verbindung an, eine Heirat und ein Zusammensein. Dazu wählen sie einen ganz bestimmten Ort aus, die "Ummauerte Stadt". Diese Stadt existierte einst wirklich als realer Ort (ich glaube, es hatte was mit Kowloon in Hongkong zu tun). Nun wurde sie im Cyberspace neu errichtet und zwar als autarke Hacker-Enklave. Jedes Mitglied liefert einen Teil der nötigen Hardware, welche Programmcode der Ummauerten Stadt beinhaltet. Diese Hardware ist immer mobil, d.h. die Stadt und ihre Bewohner (User) haben keinen festen Aufenthaltsort in der realen Welt und keine bekannte Adresse im Cyberspace. Man muß jemanden aus der Community treffen, um sich Zugang zu verschaffen. Damit ist sie außerhalb eigentlich gar nicht vorhanden und trotzdem innerhalb der Mauern ein fest definierter Raum: Ein unabhängiger, verborgener Fortsatz beider Ebenen und damit der perfekte Brückenkopf für Rez und die Idoru ( vgl. William Gibbson, Idoru(1996), S.147; Anmerkung: Die Ummauerte Stadt in Gibsons Roman stellt dabei eine Erweiterung der klassischen Hackerdomain Treehouse dar, einem geheimen und fast mythischen Rückzugspunkt von Hackern im Cyberspace, der in vielen Szenarien in der Geburtsstunde der Matrix erschaffen wird und sich allen Kontrollversuchen hartnäckig entzieht.). Die Ummauerte Stadt ist zwar eine Cyberdomain, aber ihre Funktion entspricht dem Versammlungsort einer subkulturellen Gruppe, z.B. einer Stammkneipe. Als solcher ist er Bestandteil des Gruppenlebens und prägt mit seiner Atmosphäre die Wahrnehmung der Mitglieder. Im Falle der Ummauerten Stadt äußert sich die Gruppenphilosophie der autoritätswidrigen und sabotageliebenden Hacker in einem allgegenwärtigen Zustand des Verfalls und der Auflösung, eine surreale Mischung aus virtuellem Moder und dem pixeligem Moiré eines flirrenden Monitors („Bitfäule“ vgl. William Gibson, Futurematic(1999), S.276/277;). Vor diesem Hintergrund scheint die Begegnung zweier so unterschiedlich gearteter und doch so ähnlich veranlagter Wesen trotz aller Widersprüche in der Vorstellung des Lesers nicht ausgeschlossen zu sein (vgl. William Gibson, Idoru(1996), S.329ff.;).
Bis hierhin stehen Realität und Virtualität auch in der Fiktion nur für den Menschen wirklich gleichberechtigt nebeneinander. Der Mensch existiert in der Realität. Auf verschiedenen Wegen kann er in die Virtualität übertreten und sich dort frei bewegen. KI dagegen entstammt der Matrix und kann zwar unter bestimmten Umständen in die Realität gelangen, aber sie benötigt dazu einen Körper als Gefäß. Es ist kein Interface vorgesehen, welches neben dem Wechsel des Menschen in die Virtualität auch den Umkehrfall für ein Cyberwesen leisten könnte. Gibson geht nun am Ende seiner zweiten Trilogie mit dem Roman FUTUREMATIC ( William Gibson, Futurematic (1999), Wilhelm Heyne Verlag GmbH & Co KG, München 2002;) den für seinen virtuellen Style entscheidenden Schritt weiter, diesen Vorgang bis in die letzte Konsequenz umzukehren. Er skizziert die mögliche Entwicklung einer Nanotechnologie auf. Die Nanobots, winzige Assembler-Roboter, fügen nach einem zuvor festgelegten Vorbild beliebige Objekte aus allem zusammen, was verfügbar ist. Aus Schutt, Schrott und Abfall konstruieren sie die benötigten Atome und erstellen die perfekte Kopie von einem Gebäude, einer Pflanze oder einem Gegenstand. Allein aus rechtlichen Gründen ist es im Roman verboten, Menschen, Tiere, HiTec und Waffen per Assembler zu klonen, ein technisches Problem ist es nicht. Bei der Neueinführung eines Nanofaxes in der weltweit vertretenen Ladenkette „Lucky Dragon“ gelingt es der Idoru Rei Toei das Bild des Gegenstandes abzufangen, welches zur feierlichen Eröffnung an alle Filialen der Welt gesendet wird. Anstelle dessen speist sie sich selbst in die Übertragung ein und tritt aus tausenden Nanofaxgeräten gleichzeitig nackt und wirklich in die reale Welt als echter Mensch (vgl. William Gibson, Idoru(1996), S.380;). Für Gibson stellt dies das Ende der Welt wie wir sie kennen dar, denn die Materialisation von Daten verschmilzt beide Ebenen als Ebenbürtige miteinander. Mit dem Bild des Menschen, der nackt und schutzlos in die Welt hinaustritt, wird auch das Bild der biblischen Schöpfung wieder heraufbeschworen, er steht wieder am Anfang der Geschichte: Mit dem Eintritt der KI in die Realität schließt sich der Kreis und beginnt einen neuen Zyklus in der Schöpfungsgeschichte.
Soweit erst mal zum Beispiel, es folgt die Untersuchung der Annäherung an den fiktiven Entwurf. >> TEIL 2
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