Me & my selfie

Die Zukunft ist ungewiß und preßt sich ganz allmählich durch das Nadelöhr der Gegenwart.
Auf dem Weg: Pläne zur Ergreifung der Weltherrschaft.
Funktioniert natürlich nicht.
Dann: Pläne für das Erlangen von Weltruhm.
Funktioniert natürlich auch nicht.
Dazwischen: Selbstfindung, Selbstinszenierung und Selbstironie.
Bevorzugtes Medium immer das Internet, nirgendwo ist der Weg in die Öffentlichkeit kürzer als irgendwo mit einem Klick.

Fatal. Hinz und Kunz zieht blank, jeden Tag, Privatleben, Urlaub, Familienfotos, Surf- und Einkaufsgewohnheiten, Freizeit, Körper, Seele. Privater Content und endlose Statusmeldungen von kurzweilig bis zum kotzen, und wenn der Input endet, wird neuer Content aus der Inhaltslosigkeit destilliert, Blogger bloggen über Blogger, Netzwerker netzwerken so vor sich hin, Foren favorisieren das Auskennerische bis zur Unverständlichkeit, hallo Leetspeak. Ich liebe skurile Statusmeldungen und unterhaltsame Kommentare, aber manchmal frage ich mich, ob ich aus dem Alter schon wieder raus bin oder ob ich niemals in dem Alter war. Um von den leeren Zeilen abzulenken wird dazwischen alles mit bunten Bildchen gepflastert, die unschöne Flut unscharfer, kontrastloser, kompositionsfreier Fotos aus den Handykameras der Erde, und wenn sich nix Spannendes findet kann man ja immer noch ein Selfie posten. Hundert mal am Tag. Also bitte.

Was ist das nur mit den Selfies? An der üblichen Netzhalbwertszeit gemessen eigentlich schon ein alter Hut, aber ungebrochener Renner in immer neuen Hypes, 2012 vom Time Magazin unter die zehn Schlagworte des Jahres gewählt, 2013 durch die Aufnahme ins Oxford English Dictionary (online) geadelt und dann zuguterletzt als Wort des Jahres gekrönt... beeindruckende Karriere für die schmucklosen Produkte, mit denen das Internet und die networks fortlaufend von Innen tapeziert wird. Das gespenstische Eigenleben als unabhängiges Format scheint ähnlich ungeplant, viral und nachhaltig wie das der SMS. Spiegelselfie, Touri-Selfie, duckface-selfie, sellotape selfie, pet-selfie, baby-selfie, After-Work-Out-Selfie, belfie, Sex-Selfie... - hallo wie? Ja wow.

Also nochmal langsam, wie sooft ist die Reihenfolge nicht so unwichtig bei der Frage nach dem wie-konnte-das-denn-passieren. Die Selfies sind wirklich etabliert. Sie funktionieren ganz einfach, man hält sich die Kamera vors Gesicht, oft schräg von oben, verdreht dabei die Hand und macht ein Foto von sich selbst. Keine große Sache, einfach so zwischendurch, hallo ich sitze hier mit meinem Kaffee draußen in der Sonne, das Wetter ist schön... - und Ihr? Vermutlich gleich mehrmals bis das Ergebnis zufriedenstellend ist, denn man kann den Kamerawinkel ja nicht selbst überprüfen.

Das Spiegelselfie bringt zum normalen Selfie qualitativ ganz gute Ergebnisse, man kann in Ruhe vor dem Spiegel posieren und entweder das Spiegelbild fotografieren oder im Spiegelbild den Kameraauschnitt prüfen. Wie sooft wird sofort der Mehrwert erkannt: Schauhfensterscheiben mit interessanten Reflexionen, Klamottenarien bei H&M in der Umkleide oder auch in richtigen Luxus-Boutiquen, wozu die ganzen Fummel kaufen, wenn man nur ein Foto braucht, um sich im Netz interessant zu machen? Der Krempel ist eh nach einer Saison abgelaufen und hallo, ein Outfit von dem es ein Foto gibt, ist abgeschossen und darf kein zweites Mal auftauchen, wie uncool. Futter für Millionen Modeblogs ohne Budget. Wer nicht mit modelhaften Zügen gesegnet ist, läßt halt das Gesicht weg und fotografiert vom Hals abwärts an sich herunter, Schuhe und Outfit sind drauf, das reicht, für Auskenner kommen noch Hinweise auf die Lokalität hinzu, dezente Gullideckel, pittoreskes Kopfsteinpflaster, mondäner Flokati oder durchgelatschter Perser, abgezogene Dielen und Fischgrätparkett entscheiden über die Verortung im Lifestyle.

Genauso spannend das Touri-Selfie, wie praktisch, man muß keine Passanten mehr fürs Foto verpflichten und kann außerdem zeitsparend pausenlos Fotos von sich selbst in spannender Umgebung posten, man darf also neben dem dezenten Angeben mit den Urlaubszielen auch noch darauf hoffen, wegen der Stadtmotive in die Aufmerksamkeit zu geraten. Wenn das alles nicht mehr fruchtet und die ewigen Alltags-Tagesoutfits nerven, dann muß es eben eine Grimasse sein. Vielleicht zählt hier auch die Abscheu vor Fotos von sich selbst, die nie den gewünschten Look haben und sowieso nie so schön wie in der Werbung sind oder viele echte und auch ebenso viele eingebildete Makel zeigen - und deshalb werden liebevoll die allerhäßlichsten Fotos ausgesucht. Das duckface selfie mit eingesaugten Wangen, Entenschnute und aufgerissenen Augen, wer glaubt nur, das Frauen damit besser aussähen, und dann gleich die sellotape selfies, sellotape ist das britische Gegenstück  zum Tesafilm, der Kopf wird wild umwickelt, dabei die ganze Visage verzerrt und gequetscht, unmögliche Gegenstände miteingeklebt, was gerade zur Hand ist, Maus, Tastatur, halbe Wohnlandschaften, je doller die Grimasse desto zahlreicher die Likes. Wem das alles nichts ist, der postet pet-selfies und ersetzt sich selbst durch sein Haustier, vielleicht weil man ganz verliebt ist in die drolligen Tierchen, vielleicht weil die Bestätigung der Süßheit des Haustiers selten auf sich warten läßt, während die Bestätigung der eigenen Niedlichkeit nach einem Selfie vom Müll rausbringen ausbeibt und weil man selbst eben nicht kuschelig weiches Fell hat, sondern einen verwachsenen Haarschnitt und weil man keine niedlichen Knopfaugen hat, sondern Augenringe auf den Augenringen. Es geht noch härter, frische Eltern schaffen sich selbst ab und posten fortan nur noch niedliche Fotos der eigenen Brut - was streng genommen überhaupt gar nicht in Ordnung ist, die Volljährigkeit und Einverständniserklärung mit der fotografischen Veröffentlichung bleiben abzuwarten und stehen im Ernstfall noch T-18 Jahre aus - weil gerade kein Platz für was anderes in der Wahrnehmung ist und das unsagbare Glück einfach raus muß und mit einem Baby kommt man ja auch erstmal nicht vor die Tür und vor allem werden die Augenringe auf den Augenringen noch schlimmer.

Die Extremsportler und Fitness Freaks lassen grüßen, morgens um sechs mit einem neckischen Foto von den Turnschuhen an den Füßen oder mit schwindelerregenden Optiken am Bungee Seil und flatternden Wangen beim Fallschirmsprung, im Hintergrund das Gipfelkreuz auf 8000m und senkrechte Felswände beim Kletterausflug, hier zählt, das der Arm sehr wohl mit im Kameraausschnitt ist, damit man beweisen kann, das man das Foto tatsächlich selbst geschossen hat, als man gerade an der Hochhauswand runterlief. Wenn dann der viele Sport endlich Folgen zeigt und die ausgeblichenen Alttattoos schön über den frischen Muskeln spannen, dann lohnt das belfie, das sich natürlich aus dem body-selfie ableitet, gerne ohne Kopf, darum gehts ja hier nicht.

Statt dessen geht man aufs Ganze und zeigt willig her, was die Schinderei hervorbrachte und manche der Ausschnitte geraten ungewollt entblößt und sexy und auf einmal verschwimmt die Grenze zu ganz gewollt schlüpfrig, die Borderliner-Fotos werden ganz bewußt aufreizend und führen geradlinig ins sex-selfie. Ganz übel. Die Entgleisung, ebenso folgeschwer wie die Selfies im Vollrausch (da gabs natürlich auch ne Wortschöpfung für, die hießen Drelfies) auf völlig aus dem Ruder gelaufenen Semesterparties und Wochenend-Saufgelagen, sind kein Produkt der Porno-Industrie. Nein, im Internet gibts das neuerdings alles völlig für umsonst, natürlich nur unter Freunden, so in sozialen Netzwerken, oder hast Du etwa bei Deinen Einstellungen nicht aufgepaßt? - ich schickte es meinem heißen neuen Freund, jetzt ist er mein Ex und postet das Foto bei Facebook! Ein Massenphänomen und völlig unbehelligt von irgendwelchen Altersbeschränkungen, eine Erscheinung auf breiter Front, die die Porno-Industrie einfach nebendran stehen läßt, mit diesem völlig kostenfreien Angebot auf dem vermeintlich privatem Areal, es könnte die bildmediale und moralische Katastrophe für social networks bedeuten und Freiraum bieten für Jäger und Freiwild, Öl ins Feuer derer, die die volle Zensur im Internet herbeiwünschen. Ob die Digital Natives wirklich wissen, was sie ihrer eigenen Zukunft antun, bleibt fraglich, es fehlt ja so oft der Erfahrungsstand in Echt, aber was im Internet steht, läßt sich nicht löschen und Jahre später will man nicht, das der neue Arbeitgeber oder frisch rausgeschmissene Ex Fotos in eindeutigen Posen mit Minus Null Klamotten und noch weniger Geschmack und Anstand aus dem Internet gräbt. Will man einfach nicht.

Ihre Beliebtheit leitet sich wohl aus dem vermeintlichen Maß der Kontrolle über die gewünschte Selbstinszenierung ab. Man muß Niemanden bitten oder gar einen Fremden ansprechen, sondern sofort selbst fotografieren und die Fotos auswählen, die dem eigenen Wunsch entsprechen - ohne über die Folgen nachzudenken. Zeitpunkt und Umgebung geben dem Betrachter zusätzliche Informationen, ebenso sind Haltung und Audruck oft freizügiger, wenn man sich selbst fotografiert, es entstehen reihenweise Fotos, die unter anderen Umständen nicht drin wären, weil man schon befangener ist, wenn jemand anderes durch die Linse späht. Selbstinszenierung bis zur Verzerrung birgt seltsame Gefahren. Freunde und Familie lehnen erfahrungsgemäß die verzerrte Darstellung ab, für die Internet-Gemeinde bleibt sie kommentarlos und damit echt. Die obsessive Selfie-Manie betrifft vorrangig Personen mit schwacher sozialer Anbindung, insbesondere schwacher Anbindung in sozialen Netzwerken oder aber bewußt zunächst vermiedener Anbindung zum Beispiel unter einem Pseudonym, denn hier fehlt das kontrollierende Moment, das Feedback aus dem engeren sozialen Umfeld. Sollte man meinen - stimmt aber nicht, das tägliche Selfie betrifft das Tagtägliche und Alle, völlig normal, Futter für den News-Stream, und wie gewohnt wird es tagtäglich abgehakt, I-like siehst du gut aus, I like mein Gott wo warst Du denn feiern, I like schickes Outfit, I like nette Location, I like Du warst beim Friseur...

Die Sex Selfies, das trifft wohl sehr unerfahrene oder sehr unbedachte Menschen und es ist ein echtes Drama. Was ist das also mit den Selfies, virtueller Narzißmus? Enthemmung? Zügellosigkeit? Gut für alle die sich gut damit fühlen, bitte, es gibt schöne Menschen und schöne Fotos, und wen das nicht kratzt, der bereichert vielleicht das Netz mit nuancierten Aktbildern und facettenreichen Portrtaits - wie gesagt, wer kann. Aber öfter trifft man wohl doch auf mangelndes Bewußtsein oder tatsächlich auch mangelndes Wissen darüber, was alles mit den Selfies im großen weiten Internet passieren kann und die Nichtachtung der Tatsache, das sie an unerwarteter Stelle zu unpassenden Zeitpunkten in völlig unerwünschten Zusammenhängen wieder auftauchen. Und dann? Die Scham ist echt, der Makel geht nicht mehr weg, also bitte, laßt doch einfach die Scheißklamotten an.



[foto: Rini Tinnef // stubensphinx]

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